Kapitel 26
Ein rasender Schmerz machte sich in Gideons Bauch breit. Er taumelte zurück und hob mühsam seine Hand. Etwas Warmes, Dickflüssiges sickerte über seine Finger. Wie im Traum hob er die Hand und blickte sie an. Sie war blutverschmiert. Als er nach unten sah, bemerkte er einen roten Fleck auf seinem Hemd, der rasch größer wurde.
Bevor er begriff, was geschehen war, knallte ein zweiter Schuss und riss ihn aus seiner Erstarrung. Er ließ sich zu Boden fallen und suchte nach einem Schutz. Ein dürrer Mesquitebaum stand keine zehn Schritte entfernt. Sein Stamm war kaum so breit wie Gideons Hüfte, doch es war besser als nichts. Eine dritte Kugel schlug vor ihm ein, als er hinter den Baum kroch.
Gideon lehnte seine linke Schulter an den Stamm und drehte sich, um dem Schützen kein Ziel zu bieten, während er versuchte, zu Atem zu kommen. Er schwang sein Gewehr in die richtige Position und knirschte bei dem Schmerz, den die Bewegung auslöste, mit den Zähnen. Gedanken an Bella und Adelaide trieben ihn an, als er den Lauf der Waffe auf einem Ast stabilisierte. Wenn er diesen Wahnsinnigen nicht hier und jetzt stoppte, würden die beiden sein nächstes Ziel sein.
Schweiß tropfte von seiner Stirn. Er wischte ihn weg und blinzelte mehrmals, um einen klaren Blick zu behalten. Er spürte, wie seine Kraft zusammen mit dem Blut aus seinem Körper floss. Gott, hilf mir. Ich darf meine Familie nicht im Stich lassen.
Eine unnatürliche Stille erfüllte die Luft. Gideon schloss ein Auge und sah am Lauf seiner Waffe entlang, während er darauf hoffte, dass der Schütze sich zeigte.
„Ich weiß, dass meine Kugel dich getroffen hat, gringo. Bist du schon tot?“
Gideon erwiderte nichts und beobachtete weiter die Felsen.
„Der englische Kerl will dich tot sehen. Aber ich? Ich will, dass du genauso leidest wie ich.“ Der Angreifer unterstrich seine Worte mit einem weiteren Schuss.
Gideon zog seinen Kopf zurück hinter den Baum. Die Kugel schlug in einem Zweig ein. Holzsplitter flogen durch die Luft.
Er hatte die Stimme des Schützen erkannt. Es war der Scherer, der Adelaide angegriffen hatte. Aber er sollte doch im Gefängnis sein. Warum hatte ihn niemand gewarnt, dass der Kerl entkommen war? Gideon biss die Zähne zusammen und zwang seine Wut nieder. Jetzt war er hier – und hatte sich ganz offensichtlich mit Petchey verbündet. Gideon konnte sich keinen anderen Engländer vorstellen, der seinen Tod wollte. Doch wo war der Viscount? Wartete er auf den Bericht seines Lakaien, dass Gideon das gleiche Ende gefunden hatte wie seine Schafe?
Zumindest konnte er sich dessen gewiss sein, dass Petchey vorerst hinter ihm her war und nicht hinter Bella. Darin lag eine kleine Hoffnung. Vielleicht war der Mistkerl doch nicht so verdorben, dass er seine eigene Nichte des Geldes wegen tötete. Doch wenn Gideon starb, konnte Petchey beides für sich beanspruchen, Isabella und das Erbe.
Doch Gideon würde nicht zulassen, dass die Kleine mit dem Menschen leben musste, der ihre Eltern ermordet hatte. Das Geld allerdings war ihm egal. Natürlich war es dazu gedacht, Isabella eine sichere Zukunft zu garantieren, doch wenn er Petchey damit loswerden würde, würde er innerhalb eines Wimpernschlages den Treuhandfonds an ihn überschreiben.
Gideon schloss die Augen und verzog das Gesicht. Er war sich so sicher gewesen, dass der Viscount nicht hinter dem Gemetzel an seinen Schafen steckte! Er sah auf sein blutiges Hemd hinab. Schussverletzungen im Bauchbereich waren so gut wie immer tödlich, das wusste er. Gideon unterdrückte ein Stöhnen und wandte seinen Blick weg von dem schrecklichen Anblick. Vielleicht war es zu spät, um den Erfolg von Petcheys erstem Schritt zu verhindern, doch Gideon würde nicht zulassen, dass Bella den Preis für seine Dummheit bezahlen musste.
Er richtete seine Augen zum Himmel. Gott, ich werde dich nicht darum bitten, dass du mein Leben schonst, aber ich bitte dich um ein bisschen mehr Zeit. Ich muss nach Hause gelangen und dort alles regeln können, bevor du deine Engel nach mir ausschickst. Bitte. Ich muss Bella vor Petchey beschützen. Hilf mir.
In der Hoffnung, dass der andere einen Fehler machen würde, rief er laut: „Du bist also immer noch ein Feigling, José. Lauerst mir auf, wie du der Lehrerin meiner Tochter aufgelauert hast. Ich hätte dich töten sollen.“
„Du denkst wohl, du bist ein besserer Mann als ich, gringo? Wer von uns beiden blutet denn, eh?“
„Es ist nur ein Kratzer. Ich könnte immer noch den Boden mit dir wischen, du Schlappschwanz. Wie letztes Mal. Die einzigen Lebewesen, die du töten kannst, sind wehrlose Schafe.“
„Halt die Klappe, Engländer“, brüllte José wütend zurück. „Ich werde meine venganza bekommen.“
Gideon lächelte, als er die Anspannung in der Stimme des Mannes hörte. Er stand kurz davor, außer Kontrolle zu geraten. Alles, was noch fehlte, war ein kleiner Schubser.
„Rache ist ein großes Wort für so einen kleinen Mann wie dich, José“, rief Gideon durch die Zweige des Mesquitebaumes. „Warum hast du dich nicht gleich an mir gerächt, als du wie ein Hund aus dem Gefängnis geflohen bist? Du warst nicht schlau genug, um es allein zu machen, stimmt’s? Nein, du brauchtest einen Engländer, der dir sagt, wo es langgeht, und der dir genug Geld gibt, um deinen Mut aufzubessern. Du bist nichts als ein wertloser, feiger –“
Ein wütender Schrei unterbrach Gideons Worte. José beugte sich hinter einem Felsen hervor und gab ein paar wilde Schüsse ab. Gideon hielt seine Waffe auf den Kerl gerichtet, obwohl die Holzspäne um ihn herum nur so herabregneten. Langsam zog er den Abzug. José schrie noch einmal auf, bevor er zu Boden fiel.
Gideon hielt die Waffe weiterhin in die Richtung, aus der eben noch die Schüsse gekommen waren. Zuerst rührte sich nichts, doch schließlich kroch José hinter einem Felsen hervor, wobei er sich den Arm hielt. Sofort feuerte Gideon wieder. Doch die Kugel prallte an einem Felsbrocken ab. Das gab José die Gelegenheit, zu seinem Pferd zu hechten. Schnell schwang er sich in den Sattel und preschte an den Körper des Tieres gepresst davon.
Sobald die unmittelbare Gefahr vorüber war, verstärkte sich der Schmerz in Gideons Bauch. Er stöhnte und ließ sich gegen den Baumstamm sinken. Die raue Rinde drückte in seinen Rücken, als die Welt um ihn herum anfing, sich zu drehen. Doch er durfte jetzt nicht sterben. Er musste zurück zu Adelaide und Bella. Seine Aufgabe war noch nicht beendet.
Mit letzter Kraft riss Gideon sein Hemd auf, um die Wunde in Augenschein nehmen zu können. Knöpfe sprangen ab, doch endlich hatte er es geschafft. Blut rann aus einem Loch knapp über seinem Hosenbund. Er zog ein Taschentuch hervor und presste es auf die Wunde. Fast wäre er von dem erneuten Schmerz ohnmächtig geworden.
Nahendes Hufgetrappel ließ ihn aufhorchen. Er drückte das Taschentuch mit der Linken auf das Loch und legte mit der rechten Hand seine Waffe an. Mit dem Knie stützte er den Lauf ab.
Ein Reiter näherte sich ihm. Gideon ließ die Waffe erleichtert fallen. Juan musste die Schüsse gehört haben.
Als der Hirte abgesprungen war, rannte er zu Gideon und sank neben ihm ins Gras.
„Patrón, Sie bluten.“
„Ich weiß.“ Gideons mühsame Antwort war kaum zu hören.
Juan untersuchte den Bauch seines Arbeitgebers. Als sich ihre Augen trafen, erkannte Gideon, dass der Mann nicht viel Hoffnung hatte.
„Es siehst schlimm aus, señor.“
„Es … fühlt sich auch schlimm an.“
Juan versuchte zu lächeln, doch der Versuch scheiterte kläglich. Er zog sein Hemd aus und rollte daraus einen provisorischen Verband. Gideon beugte sich nach vorne, damit Juan seine Taille verbinden konnte. Der vaquero zog das Hemd über dem Taschentuch fest und machte einen Knoten in die Ärmel. Der Verband saß so eng, das Gideon kaum atmen konnte, doch er hatte so schlimme Schmerzen, dass ihm das Atmen ohnehin schwerfiel, also war das Opfer, das er brachte, nicht allzu groß.
Gideon sah sich nach Salomo um und war nicht überrascht, dass er davongaloppiert war. Er war wahrscheinlich beim ersten Schuss auf und davon. Kluges Pferd. Gideon seufzte. „Hilf mir aufs Pferd, amigo. Ich muss nach Hause.“
Er streckte seine Hand aus. Juan ergriff seinen Unterarm und zog ihn auf die Beine. Feuer schoss durch seinen ganzen Körper. Gideon schnaufte und stützte sich auf Juan, der ihn langsam zu seinem Pferd führte. Stoßweise atmete er aus.
Als sie bei dem Tier angekommen waren, hielt Gideon sich am Sattel fest, während Juan ihn vorsichtig losließ.
„Fertig, patrón?“
Gideon wünschte sich, einen Ast oder ein Stück Leder zu haben, auf das er beißen konnte, doch er nickte. Vorsichtig hob er den rechten Fuß in den Steigbügel, ergriff den Sattelknauf und versuchte, sich auf das Pferd zu schwingen. Juan legte seine Hände an seine Seite und schob ihn von unten her in den Sattel. Erschöpft hielt Gideon sich fest, während seine Muskeln anfingen, unkontrolliert zu zittern.
Juan stieg hinter ihm auf. Zum Glück war das Pferd so gut erzogen, dass es lange genug stillhielt, bis beide Männer aufgestiegen waren. Der Hirte ergriff die Zügel und trieb das Pferd an.
„Ich bringe Sie zum Haus und hole dann den Arzt.“
Während Gideon darauf achtete, dass der Sattelknauf nicht in seine Wunde drückte, unterdrückte er einen Schrei. Das Pferd trabte einen Hügel hinab. „Hol auch den Pfarrer“, brachte er zwischen zusammengepressten Zähnen hervor.
„Den Pfarrer, patrón?“
„Sí.“ Gideon drehte den Kopf, so weit er konnte, um Juan anzuschauen. „Versprich es mir … du kommst nicht ohne … den Pfarrer. Das ist … wichtig.“
Juan nickte. In seinen Augen stand tiefes Mitleid.
„Sí, señor. Ich hole auch den Pfarrer.“
Erleichtert wandte Gideon sich wieder nach vorne. Er wusste, was er zu tun hatte. Er musste nur darauf hoffen, dass Gott ihn lange genug am Leben erhielt, damit er seinen Plan auch ausführen konnte.